Trotz des diesjährigen Böllerverbots gab es in der Silvesternacht einen großen Knall: Die Europäische Kommission veröffentlichte Vorschläge, nach denen Erdgas und Kernkraft als grüne Investitionen eingestuft werden. In der folgenden Erklärung am 1. Januar heißt es dann: "Die Kommission ist der Ansicht, dass Erdgas und Kernenergie eine Rolle spielen können, um den Übergang zu einer überwiegend auf erneuerbaren Energien basierenden Zukunft zu erleichtern."
Die Entscheidung hat eine Debatte entfacht. So argumentieren viele, durch die Aufnahme von Gas und Kernenergie in die EU-Taxonomie der umweltverträglichen Wirtschaftstätigkeiten untergrabe die EU das eigentliche Ziel des Klassifizierungssystem: die Verhinderung von Greenwashing und die Unterstützung des Ziels der EU, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen, indem Milliarden in saubere Energieprojekte fließen. Andere sehen die Gas und Kernkraft als notwendige "Brückentechnologien".
Ein geteiltes Europa
Die Debatte ist zu einem Stellvertreterkampf zwischen den europäischen Staats- und Regierungschefs um die Energie der Zukunft in der EU geworden. Frankreich führte im vergangenen Jahr eine Koalition an, der auch kohleabhängige Länder wie Polen, Ungarn und Rumänien angehörten, um die Kernenergie und Erdgas als nachhaltige Investitionen einzustufen. Diese Länder wollen mehr Investitionen in die Kernenergie anziehen, um ihren Bedarf an fossiler Energie zu senken.
Deutschland hingegen hat zusammen mit Luxemburg, Portugal, Spanien und Dänemark seine Besorgnis über die Anhäufung von Kernkraftwerken auf europäischem Boden und den von ihnen produzierten radioaktiven Abfall zum Ausdruck gebracht. Österreich hat sogar erklärt, die Europäische Kommission zu verklagen, sollten die Pläne umgesetzt werden.
"Was auf der europäischen Bühne passiert, ist nationale Politik, in der der Klimaschutz nur eine untergeordnete Rolle spielt."
Tim Schumacher, Partner & Founder, World Fund
Eine Brücke bauen oder einen Tunnel graben?
Auch unter Marktteilnehmern und Experten scheiden sich die Meinungen. Einige betrachten Erdgas und Kernkraft als Brückentechnologien, die genutzt werden sollen, um den Übergang von Kohle und anderen fossilen Energieträgern zu sauberen Energiequellen zu erleichtern.
In den vorgeschlagenen Plänen würden beispielsweise neue Kernkraftwerke bis 2045 als nachhaltige Investition betrachtet und müssten während ihrer Lebensdauer sicherheitstechnisch nachgerüstet werden, um die „höchsten erreichbaren Sicherheitsstandards“ zu gewährleisten. Darüber hinaus müssten die Länder radioaktive Abfälle sicher entsorgen – wie genau dies erreicht werden soll, bleibt unklar.
Andere sind der Meinung, dass Gaskraftwerke nur dann als nachhaltig angesehen werden können, wenn sie „H2 ready“ sind also auch mit Wasserstoff betrieben werden können. Einige argumentieren jedoch, dass Erdgas aufgrund seines Namen (im Englischen: Natural Gas) bereits heute als deutlich klimafreundlicher wahrgenommen wird, als es tatsächlich ist, und die Einstufung als grüne Investition diese verzerrte Wahrnehmung nur weiter bestärken würde.
Darüber hinaus könnte die Entscheidung erhebliche Auswirkungen auf andere Teile der Welt haben. Wenn Europa zum Beispiel damit beginnt, Investitionen in grünes Gas zu nennen, was hindert dann Nationen in anderen Regionen daran, ihre Gasanstrengungen ebenfalls zu verstärken?
Tim Schumacher, Gründer und Partner des Wagniskapitalgebers World Fund, sagt: „Meine wesentliche Befürchtung ist, dass die EU Taxonomie insgesamt hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit großen Schaden nimmt. Geschieht schon und hat das Potenzial, den gesamten Green Deal so sehr aufzuweichen, dass die definierten Emissionseinsparziele nicht erreicht werden. Das, was da auf europäischer Bühne geschieht, ist Nationalpolitik, bei der Klimaschutz nur eine nachgelagerte Rolle spielt.“
Sollten Gas und Atomkraft als umweltfreundlich gekennzeichnet werden?
Wir haben eine Online-Umfrage durchgeführt, um die Stimmung unter Fachleuten aus der Energiebranche einzufangen. Von 160 Personen befanden 65 Prozent, dass weder Gas noch Kernkraft als grüne Investition betrachtet werden sollten. 28 Prozent sind der Meinung, dass lediglich Kernkraft als grün angesehen werden sollte. Gerade einmal 6 Prozent der Meinung sind, dass beides als grün angesehen werden sollte, und nur 1 Prozent halten lediglich Erdgas aber nicht Kernenergie für nachhaltig.
Die Antworten müssen jedoch noch weiter differenziert werden. Dirk-Jan Middlekoop, Head of Sales and Expansion bei Sympower, stimmte beispielsweise dafür, dass nur Kernkraftwerke als grün angesehen werden sollten, präzisierte aber, dass „nur bestehende Kernkraftwerke als grün angesehen werden sollten, nicht neue.“
„Angesichts der Klimakrise haben wir diese Zeit nicht. Wir können die Klimaziele nur erreichen, wenn wir heute massiv in erneuerbare Energien investieren.“
Christian Chudoba, CEO, Lumenaza
Eine langfristige Perspektive
Christian Chudoba, CEO von Lumenaza, stimmte dafür, dass keine der beiden Technologien als grün bezeichnet werden sollte, da dies ein völlig falsches Signal aussende. „Atommüll strahlt für Zehntausende von Jahren, und die Gefahr schwerer Unfälle während des Betriebs ist nach wie vor ungelöst. Gas hingegen verursacht bei der Verbrennung CO-Emissionen und setzt bei der Förderung das extrem klimaschädliche Gas Methan frei. Gas ist als Brückentechnologie wahrscheinlich unverzichtbar, kann aber nur eine Zwischenlösung sein. Langfristig muss unser Energiesystem zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien bestehen.“
Christian weiter: „Der Bau neuer Kernkraftwerke bindet über einen Zeitraum von 10 bis 20 Jahren bis zur Fertigstellung enorme Kapitalmengen, die besser für wirklich grüne Investitionen wie Photovoltaik, Windkraft und Speicheranlagen verwendet werden sollten, die auch schneller Ergebnisse liefern. In Anbetracht der Klimakrise haben wir diese Zeit nicht. Wir können die Klimaziele nur erreichen, wenn wir heute massiv in erneuerbare Energien investieren.“
Brüssel teilte mit, dass die Beteiligten bis zum 21. Januar Zeit haben, Feedback zu den Vorschlägen zu geben, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Die wichtigste Überlegung dabei ist, welche Auswirkungen dies auf die Priorisierung der Energiequellen in Europa haben würde.
David Balensiefen, Gründer und CEO von gridX, sagt: „Zeit und Geld in Energiequellen zu investieren, die nur mehr Treibhausgase oder schädliche Abfälle ausstoßen, scheint ein Schritt weg von unseren Klimazielen zu sein. Wenn sie mit der richtigen Technologie eingesetzt werden, sind erneuerbare Energien bereits in einem Stadium, in dem sie leicht skaliert werden können, und wenn sie jetzt richtig eingesetzt werden, werden die Länder eher früher als später von den langfristigen Einsparungen und Umweltvorteilen profitieren.“